Cottbus-Lexikon

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DDR - Cottbus wächst: Die zweite Industrialisierung

Blickt man in Cottbus bei klarem Wetter von einem höheren Hausdach nach Nordosten, sieht man unweigerlich am Horizont eine hochragende weiße Wolkensäule. Die vom Braunkohlekraftwerk Jänschwalde aufsteigenden Wasserdampfwolken symbolisieren gewissermaßen ein Überbleibsel einer zweiten Industrialisierung der Lausitz, die vor 70 Jahren begann.

Das Kraftwerk Jänschwalde markierte bei seinem Baubeginn 1976 bereits das Ende eines Megaprogramms, das in den Fünfzigerjahren durch den Ministerrat der DDR beschlossen worden war: Darin hatte man nach sowjetischen Vorbild allen Bezirken der DDR eine bestimmte Aufgabe zugewiesen. Während für den Bezirk Rostock eine meerorientierte Wirtschaft geplant war und der Bezirk Halle ein Zentrum der chemischen Industrie werden sollte, wurde der Bezirk Cottbus zum Kohle- und Energiebezirk der DDR »aufgerüstet«. Für die Niederlausitzer Region, die abgesehen von der Textilindustrie bis dahin zu den strukturschwächsten Gebieten der DDR gehörte, bedeutete die Entscheidung einen enormen strukturellen und demografischen Wandel bzw. den Startschuss für eine zweite Industrialisierung. Neben einer umfangreichen Erweiterung der Tagebaue wurden in den folgenden Jahren so rings um Cottbus mehrere braunkohlebefeuerte Kraftwerke zur Stromerzeugung errichtet. Um 1980 produzierte dieser Energiezweig etwa die Hälfte der elektrischen Energie und fast 60 Prozent der Rohkohle der DDR. 1952 waren es noch 8 bzw. 27 Prozent gewesen. Aber auch auf die Geschichte und die Erfahrungen in der Tuchfabrikation wollte man nicht verzichten, so dass ab 1968 das VEB Textilkombinat Cottbus errichtet wurde, in dem bald mehr als 4000 ArbeiterInnen tätig sein sollten.

Aber nicht nur in industrieller Hinsicht entwickelte sich die Stadt und der Bezirk Cottbus rasant. Da die neuen Industriestandorte einen großen Bedarf an FacharbeiterInnen hatten, setzte ab den Sechzigerjahren ein unaufhaltsamer, staatlich gelenkter Strom an MigrantInnen ein. Besaß die Stadt 1955 noch knapp 64.000 EinwohnerInnen, wuchs deren Zahl 1965 auf 75.000 und erreichte 1989 einen Höchststand von fast 130.000. Der Großteil der neuen Fachkräfte, die durch einen guten Verdienst und moderne Wohnungen mit Bad sowie Fernheizung gelockt wurden, stammte dabei aus den alten industriellen Kerngebieten im Süden der DDR. Die Besonderheit dieser Bevölkerungsentwicklung bzw. Wanderungsbewegung wird auch dadurch herausgestellt, dass der Bezirk Cottbus zu den wenigen Regionen in der DDR gehörte, die überhaupt eine Zunahme von EinwohnerInnen hatte. Dieser immense Zuzug sorgte zwangsläufig dafür, dass sich das Stadtbild nachhaltig veränderte. Wie bei der vorhergehenden Zuwanderungswelle am Ende des 19. Jahrhunderts mussten die Stadtgrenzen erneut ausgedehnt werden. Ab 1974 entstand im Süden der Stadt die in Plattenbauweise gefertigte Großwohnsiedlung Sachsendorf-Madlow mit 12.000 Wohneinheiten. Zwischen 1984 und 1991 wurden in Neu-Schmellwitz weitere 5.500 Einheiten errichtet, um dem Wohnungsmangel zu begegnen. Da bevorzugt junge Arbeitskräfte in die Stadt gelenkt wurden, sank das Durchschnittsalter, während die Anzahl der Kinder stieg. Damit wurde parallel der Bau von Kindertagesstätten – 1980 existierten bereits 56 – und Schulen notwendig. Auch die Architektur der Stadtmitte wandelte sich im Zuge der beständigen Vergrößerung von einer Kleinstadt des 19. Jahrhunderts zu einem neuen Mittelzentrum, das besonders in der Stadtpromenade seinen Ausdruck fand. Die Bevölkerung, das Aussehen und der »Herzschag« der Stadt wandelte sich durch den Modernisierungsschub in weniger als drei Jahrzehnten somit völlig.

Die zweite Industrialisierung hatte für Cottbus jedoch auch Schattenseiten, die die damalige Bevölkerung unmittelbar betraf. In einer Studie zu den Umweltauswirkungen des Kraftwerkes Jänschwalde von 1981 – damals als streng vertraulich eingestuft – wurden die zu erwartenden Belastungen aufgeführt: »Mit dem Bau des Kraftwerkes wurde im Nord-Ostteil des Bezirkes ein bedeutender Emittent errichtet.« Umweltbelastungen rangierten jedoch hinter den Erfordernissen der immer defizitärer werdenden Planwirtschaft der DDR, die die Braunkohle über das Jahr 2000 hinaus als Primärenergieträger für dominierend hielt. Gleichzeitig sollte die industrielle Einseitigkeit mit dem politischen Umbruch 1989/90 enorme wirtschaftliche und soziale Problemen nach sich ziehen.

Quellen:

Bayerl, Günter: Peripherie als Schicksal und Chance. Studien zur neueren Geschichte der Niederlausitz. Münster u.a. 2011. | Bischoff, Ursula: Der Einfluss der bergbaulichen Traditionen und großindustriellen Entwicklungen auf das soziale Gefüge und die Mobilität der Braunkohlenarbeiterschaft von Borna. Berlin 2000. | Kind, Gerold: Territorialentwicklung und Territorialplanung in der DDR. Ergebnisse und Auswirkungen auf die Raumstruktur Deutschlands. In: Regionale Strukturen im Wandel. hrsg. von Hans Bertram u.a.. Opladen 1997.

Autor: Paul Fröhlich

Bildquelle: Modell einer Abraumförderbrücke, (c) Thomas Richert

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